Gefühlsausdrücke im Wandel der Zeit
Ich spreche und schreibe gern über Herzqualitäten, weil ich glaube, dass wir Deutschen im Grunde sehr herzliche Menschen sind. In der Welt gelten wir allerdings eher als rational, nüchtern und sachlich. Die reiche Gefühlswelt großer Romantiker, wie beispielsweise eines J.W. Goethe, sucht man in der deutschen Gegenwartsliteratur eher vergeblich. Und auch in der vielseitigen Yogawelt hat man vor einigen Jahren noch eher Wert auf physisch korrekte Ausrichtung und sachliches Ansagen als auf das Wahrnehmen und Zulassen von Gefühlen und eine poetische Sprache gelegt.
Was emotionale Sprache im Yoga erreichen kann
Als ich begann, Yin Yoga zu unterrichten, wurde mir bewusst, dass ich bislang eine sehr reduzierte, nüchterne Unterrichtssprache verwendete, und ich fing an, meinen Wortschatz zu erweitern. Ein befreundeter Yogalehrer attestierte mir in einem Workshop, ich würde mich romantisch ausdrücken. Er meinte das als Kompliment, aber es verunsicherte ihn auch. Anfangs irritierte es ihn, zu sehen, dass diese Ausdrucksweise in Verbindung mit der Yin Yoga Praxis dazu führte, dass die Teilnehmer/innen sehr bewegte, teilweise tief berührte emotionale Zustände erlebten. Doch mittlerweile haben er, wie auch viele andere Yogalehrer/innen erkannt, welch eine Befreiung es für viele Menschen bedeutet, wieder Zugang zu ihrer Gefühlsebene zu finden.
Dann fließen vielleicht auch ein paar Tränen, was oft eine längst überfällige innere Katharsis in Gang setzt. Wenn endlich das da sein darf, was im anstrengenden Alltag des Funktionieren-Müssens keinen Raum hat, kann das heilsame Auswirkungen auf alle Lebensbereiche mit sich bringen. Vielleicht erkennen wir jetzt, dass wir uns selbst schon viel zu lange nicht mehr richtig zugehört und die eigenen Bedürfnisse übergangen haben. Eine emotionale Reinigung kann dazu führen, dass wir wieder mehr auf uns selbst achten und vielleicht sogar unser Leben in eine positive Richtung verändern, wenn wir die Botschaft ernst nehmen.
Neu lernen zu fühlen
Ich nehme in meinem Unterricht wahr, dass es viele Menschen auch aus genau diesem Grund zum Yin Yoga zieht: sich endlich wieder selbst zu spüren und mehr zu fühlen. Das ist eine logische Konsequenz, wenn wir geschichtlich etwas zurückblicken. Deutschland ist ein Sonderfall in der Welt, wenn es um die Themen Gefühl und Selbstwert geht. Das geht nicht nur auf die zwei Weltkriege und das daraus resultierende Schuldgefühl zurück. Während des dritten Reichs wurde massenhaft Literatur verbreitet, die jungen Müttern empfahl, ihre Babys nicht mehr zu stillen, sondern ihnen das Fläschchen zu geben. Die ihnen riet, ihre Babys nicht mehr am Körper zu tragen, sondern im Kinderwagen, und sie allein schlafen zu lassen. Mütter sollten ihre Kinder ablegen, wenn sie weinten, und nicht auf ihre Bedürfnisse reagieren. Dabei verloren viele Frauen den Bezug zu ihrer natürlichen Weiblichkeit und Intuition, und viele Kinder erlebten leichte bis schwere Bindungstraumata. Viele dieser „Ratschläge“ lassen sich sogar heute noch in Erziehungsratgebern finden. So wird es verständlich, wenn wir gerade bei Menschen, die in ihrer frühen Kindheit solche Erlebnisse verarbeiten mussten, eine gewisse Kälte und Gefühllosigkeit vorfinden.
Doch was wir verlernt haben, können wir auch wieder erlernen. Ein direkter und klarer Zugang zu der reichhaltigen Gefühlswelt, die wir aus meiner Sicht alle in uns tragen, lohnt sich. Denn es lebt sich sehr viel schöner und intensiver mit Freude, Leidenschaft, Enthusiasmus, Mitgefühl und Liebe. Der Zugang dazu liegt allerdings in den unangenehmen bis schmerzhaften Gefühlen. Es gibt nicht das eine ohne das andere. Dabei gilt: je mutiger wir bereit sind, uns der „dunklen“ Seite in uns zu stellen, desto mehr können wir auch die andere Seite erleben. Je weiter das Pendel in die eine Richtung schwingt, desto weiter schwingt es auch in die andere: wenn wir unsere Wut zulassen, können wir auch unsere Freude wieder spüren. Wenn wir unsere Traurigkeit zulassen, können wir auch unsere Liebe wieder fühlen. In meiner Arbeit stelle ich fest: immer mehr Menschen sind bereit dazu. Wahrscheinlich können wir nicht nur individuell sondern auch gesellschaftlich erst dann zu unserer wahren Größe heranreifen, wenn sich ein Herz nach dem anderen wieder öffnet.
Über die Autorin Ranja Weis:
Ranja zählt zu den besten Yogalehrerinnen in Deutschland. Sie unterrichtet regelmäßig im Yogastudio von Patrick Broome in München, wo sie Yin Yoga, Vinyasa und Yoga Nidra praktiziert. Ihr spiritueller Weg ist geprägt durch Meditation, Yoga und die Arbeit mit Schamanen. Daher gehören zu ihren Yoga Stunden auch Techniken wie Trancearbeit und verschiedene Formen der Energiearbeit.